W. Baumgart (Hrsg.): Die auswärtige Politik Preußens

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Title
Die auswärtige Politik Preußens 1858–1871. Dritte Abteilung: Die auswärtige Politik Preußens und des Norddeutschen Bundes vom Prager Frieden bis zur Begründung des Reiches und zum Friedensschluß mit Frankreich. Bd. XI/XII: Februar 1869 bis März 1871


Editor(s)
Baumgart, Winfried
Series
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte
Published
Extent
IX, 622 S.
Price
€ 199,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Ulrich Lappenküper, Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh

„Habent sua fata libelli“ lautet ein berühmtes Wort des eher mäßig berühmten antiken Grammatikers Terentianus Maurus – „Bücher haben ihr eigenes Schicksal.“ Dies gilt gewiss auch, vielleicht sogar in besonderem Maße für Akteneditionen, ist ihr Schicksal doch nicht selten von den sich wandelnden Zeitläuften der Geschichte geprägt. So hatten die am Ersten Weltkrieg beteiligten europäischen Großmächte in den 1920er-Jahren im Ringen um die Schuld an der „Ur-Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts (George F. Kennan) damit begonnen, die Akten ihrer Außenpolitik der Vorkriegsjahre herauszugeben. Zwei Großmächte, Deutschland und Frankreich, ließen den Kampf mit den „Akten als Waffen“1 dabei mit dem Jahr 1871 beginnen, dem Ende des deutsch-französischen Krieges und der Gründung des Deutschen Reiches.2 Als die immer weiter zurückreichende Erforschung nach den Ursprüngen des Weltkriegs das Bedürfnis entfachte, auch die unmittelbare Entstehungsgeschichte dieser beiden Wegscheiden zu dokumentieren, brachten beide Großmächte zwei neue editorische Großprojekte auf den Weg: „Les origines diplomatiques de la guerre de 1870–1871“3 und „Die auswärtige Politik Preußens 1858–1871“.

Die Herausgabe der preußischen Aktenedition „APP“ oblag seit 1928 der von Friedrich Meinecke geführten Historischen Reichskommission, welche die Arbeit drei von Erich Brandenburg, Otto Hoetzsch und Hermann Oncken geleiteten Abteilungen übertrug. Christian Friese übernahm die Bearbeitung der Abteilung 1 „Vom Beginn der Neuen Ära bis zur Berufung Bismarcks“ (Oktober 1858 bis September 1862). Rudolf Ibbeken zeichnete für die Abteilung 2 „Vom Amtsantritt Bismarcks bis zum Prager Frieden“ im August 1866 verantwortlich. Die Bearbeitung der Abteilung 3 „Die auswärtige Politik Preußens und des Norddeutschen Bundes vom Prager Frieden bis zur Begründung des Reiches und zum Friedensschluß mit Frankreich“ im Mai 1871 lag in den Händen von Herbert Michaelis.

Durch die Entscheidung, keine Fondsedition vorzulegen, sondern die preußischen Amtsakten durch die Quellen zur Außenpolitik der anderen europäischen Großmächte zu ergänzen, erwies sich das Projekt als höchst zeitaufwendig. Zusätzlicher Verzug ergab sich 1936 durch die Auflösung der Historischen Reichskommission und Eingliederung in das vom nationalsozialistischen Historiker Walter Frank geführte „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“. Trotz des eher geringen Interesses von Frank am Fortgang der Edition konnte die Arbeit ab 1938 unter Leitung von Arnold Oskar Meyer fortgesetzt werden. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erschienen in den drei Abteilungen insgesamt neun Bände. Im Krieg gelang nur noch Friese, einen weiteren (Teil-)Band fertigzustellen und seine Abteilung damit zu vollenden. Ibbeken und Michaelis hatten bis 1939 je drei Bände abgeschlossen, die noch fehlenden Bände 7, 11 und 12 der Gesamtedition fielen, wie wir jetzt von Winfried Baumgart erfahren, offenbar „den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs zum Opfer“ (S. VI).

Dass das editorische Großprojekt kein Torso geblieben ist, verdankt die Forschung der unermüdlichen Tatkraft des Mainzer Emeritus. 43 Jahre nach dem von Friese bearbeiteten letzten Band der „APP“ veröffentlichte er 2008 den Band 7 über den preußisch-österreichischen Krieg von 1866.4 15 Jahre später – und nach mannigfachen anderen Editionsprojekten – passt Baumgart nun mit dem Doppelband 11/12 über den Zeitraum von Februar 1869 bis März 1871 den Schlussstein in das Editionsgebäude ein.

Im Vergleich zur Uredition hat sich die Struktur des Bandes in mannigfacher Hinsicht verändert. Zum einen hat der Herausgeber die archivalische Forschung auf zwei Archive beschränkt, das Politische Archiv des Auswärtigen Amts und das Archiv des Diplomaten Prinz Heinrich VII. Reuß im Kreisarchiv Jelenia Góra (Hirschberg), das ihm vor etlichen Jahren für eine Edition der Korrespondenzen von Reuß mit den Reichskanzlern Otto von Bismarck und Leo von Caprivi diente.5 Zum anderen verzichtet Baumgart auf die Wiedergabe von Quellen, die in den vergangenen Jahrzehnten bereits in zahlreichen anderen Editionen insbesondere handelnder Politiker wie Bismarck6 veröffentlicht worden sind, und begnügt sich mit dem Abdruck von zusammenfassenden Regesten. Dessen ungeachtet ist von den insgesamt präsentierten 910 Dokumenten etwa ein Drittel bisher nicht veröffentlicht.

In Anlehnung an die Uredition hat Baumgart auch Berichte diplomatischer Vertreter Preußens im Ausland einbezogen, um die preußische Außenpolitik durch deren Schriftstücke und „in der Spiegelung der nichtdeutschen Akteure zusammengenommen möglichst umfassend zu analysieren und zu verstehen“ (S. VI). In Auswahl mit aufgenommen wurden außerdem Reden, Gespräche, Tagebuchaufzeichnungen, Protokolle und Verträge.

Auf die Vielfalt der Themen im Einzelnen einzugehen, ist hier nicht der Raum. Der Rezensent begnügt sich daher damit, auf die allerwichtigsten Aspekte der Dokumente zu verweisen. Dazu gehören vornehmlich die Entstehung, der Verlauf und das Ende des deutsch-französischen Krieges, die nicht geschlossene „Phantomallianz“ (Einleitung, S. 7) zwischen Frankreich, Österreich-Ungarn und Italien, die bilateralen Beziehungen Preußens zu Russland, Österreich-Ungarn und Großbritannien, das Verhältnis Preußens zu den süddeutschen Staaten, die Haltung Preußens zum Ersten Vatikanischen Konzil und die internationalen Verhandlungen über die Revision des Pariser Friedens von 1856.

Wie Baumgart in seiner instruktiven Einleitung darlegt, vermag die Edition die Geschichte der preußischen Außenpolitik nicht neu zu schreiben, sie liefert aber zahlreiche bisher nicht bekannte Einzelheiten und verfeinert damit das uns bisher bekannte Bild. Pars pro Toto soll lediglich auf die Turbulenzen in den für Bismarcks Kriegsführung 1870/71 so elementar wichtigen Beziehungen zu Russland verwiesen werden. Bekanntermaßen hatte Zar Alexander II. König Wilhelm I. Mitte Juli 1870 wissen lassen, „daß, im Falle Oesterreich aus seiner Neutralität heraustreten sollte, der Kaiser eine Armee von 300.000 Mann an die Grenze aufstellen würde, um die Streitkräfte Oesterreichs zu paralisiren“ (S. 306). Dass er mit seiner propreußischen Politik im Laufe der nächsten Monate ins Visier von „Parthei-Intriguen“ (S. 506) geriet, war in der hier dokumentierten Weise bisher so nicht bekannt. Umso wichtiger erwies sich für den Herrscher aller Reußen, dass Preußen sich nach der einseitigen russischen Aufkündigung der Pontus-Klausel des Pariser Friedensvertrages von 1856 entschieden hinter Russland stellte und sich für eine Botschafterkonferenz über die Schwarzmeerfrage in London einsetzte. Selbst Reichskanzler Gortschakow, der aus „Mißgunst“ gegenüber den militärischen Erfolgen Preußens auf den französischen Schlachtfeldern im deutsch-französischen Krieg eine höchst zweideutige Politik betrieben hatte, sollte nun einlenken. „Man sprach in Europa zu viel vom Grafen Bismarck“, rekapitulierte Preußens Gesandter Reuß die Haltung des russischen Reichskanzlers Anfang Dezember 1870; „das ließ ihn nicht ruhig schlafen. Jetzt spricht man auch vom Fst Gortchakow, das hat ihn einigermaßen beruhigt.“ (S. 507). Vor allem sollte Gortschakow von seiner Idee abrücken, am Ende des deutsch-französischen Krieges einen europäischen Kongress einzuberufen, um die neue kontinentale Ordnung abzusegnen.

Wie alle von Baumgart bearbeiteten Quellenwerke zeugt der Band von hoher editorischer Professionalität und lässt kaum Wünsche offen. Drei seien dennoch genannt.

1. Baumgart versteht den Band als „Edition, Regestenwerk und [durch die Einbeziehung eines Quellenverzeichnisses am Schluss] Kompendium für die preußische Außenpolitik vom Februar 1869 bis März 1871“ (S. VII). Über die Auswahl der neuveröffentlichten Dokumente lässt der Herausgeber sich leider nicht aus. Auffällig ist eine Häufung von Berichten von beziehungsweise Erlassen an Reuß.

2. Nicht recht klar wird, wieso der Band – anders als in Band 7 angekündigt – nicht mit einem Dokument „zum Versailler Präliminarfrieden vom 26. Februar 1871“7, sondern mit einem Schriftstück über die Unterzeichnung des Vertrags vom 13. März 1871 in London über die Revision des Pariser Vertrags endet.

3. Die von Baumgart präsentierte Edition stellt die preußische Außenpolitik vor allem als Europapolitik dar. Nur im Kontext des von Frankreichs Ex-Kaiserin Eugénie angebotenen Erwerbs Cochinchinas zur Milderung der deutschen Territorialforderungen im deutsch-französischen Krieg erfährt Preußens Außenpolitik in gewisser Weise einen Zug ins Globale, indem Bismarck über die Presse verbreiten lässt, dass er keine „überseeische[n] Erwerbungen“ plane (S. 573). Schenkt man einer von Baumgart nicht abgedruckten Tagebuchaufzeichnung des Großherzogs Friedrich von Baden Glauben, konnte Bismarck sich mit dieser Linie erst nach höchst kontroversen Diskussionen im Versailler Hauptquartier durchsetzen, wobei ihn insbesondere die Rücksichtnahme auf die USA davon abhielt, den Sprung nach Südostasien zu wagen.8 Ergänzt werden müsste Friedrichs I. Hinweis freilich durch die Tatsache, dass Preußens Ministerpräsident Ende der 1860er-Jahre eine durchaus aktive Asienpolitik betrieb9, die sich etwa in der Indienstnahme einer Ostasiatischen Marinestation, der Novellierung des „ungleichen“ Handelsabkommens mit Japan aus dem Jahre 1861 und dem Besuch einer chinesischen Delegation unter der Leitung des amerikanischen Diplomaten Anson Burlingame niederschlug. Auf Burlingames Wunsch nach einer Revision des ebenfalls 1861 geschlossenen „ungleichen“ Handelsvertrags mit China ließ sich Bismarck zwar nicht ein, versicherte ihm aber in einem auf Englisch verfassten Schreiben vom 16. Januar 1870 den Wunsch des deutschen Volkes, „to cultivate with her [China] the most friendly relations“.10 Drei Monate später stellte er in einem Erlass an den Gesandten Guido von Rehfues noch einmal klar, dass etwaige Marinestützpunkte an der chinesischen Küste unter der Souveränität des Kaiserreichs bleiben müssten.11 Aus diesen Darlegungen ergibt sich die grundlegende Frage, ob zur preußischen Außenpolitik der späten 1860er- und frühen 1870er-Jahre nicht (unter anderem) auch die Außenwirtschafts- und Marinepolitik in Ostasien gehörte und damit für die editorische Fronarbeit12 die Notwendigkeit besteht, weitere Archivbestände mit einzubeziehen.13

Anmerkungen:
1 Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1871–1918, München 2008, S. 49.
2 Johannes Lepsius / Albrecht Mendelssohn Bartholdy / Friedrich Thimme (Hrsg.), Die Große Politik der europäischen Mächte 1871–1914, 40 Bde., Berlin 1922–1927; Ministère des affaires étrangères. Commission de publication des documents relatifs aux origines de la guerre de 1914, Documents Diplomatiques Français (1871–1914), série 1–3, Paris 1929–1959.
3 Ministère des affaires étrangères, Les origines diplomatiques de la guerre de 1870–1871. Receuil de documents, 29 Bde., Paris 1910–1932.
4 Winfried Baumgart (Hrsg.), Die auswärtige Politik Preußens 1858–1871. Zweite Abteilung: Vom Amtsantritt Bismarcks bis zum Prager Frieden, Bd. VII April bis August 1866 (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 36), Berlin 2008.
5 James Stone / Winfried Baumgart (Hrsg.), Heinrich VII. Prinz Reuß. Botschafter von Bismarck und Caprivi. Briefwechsel 1871–1894, Paderborn 2015.
6 [Otto von] Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 6b Politische Schriften 1869 bis 1871. Bearb. von Friedrich Thimme, Berlin 1931.
7 Siehe das Vorwort Baumgarts in Baumgart (Hrsg.), Die auswärtige Politik Preußens, S. 5–10, hier S. 6.
8 Tagebuch Friedrichs von Baden, 6.2.1871, in: Hermann Oncken (Bearb.), Großherzog Friedrich I. von Baden und die deutsche Politik von 1854–1871. Briefwechsel, Denkschriften, Tagebücher, Bd. 2, Stuttgart 1927, S. 356–361.
9 Vgl. zusammenfassend Ulrich Lappenküper, Bismarck und Asien, in: ders. / Karina Urbach (Hrsg.), Realpolitik für Europa – Bismarcks Weg, Paderborn 2016, S. 211–236.
10 Abgedruckt in: Yü Wen-tang, Die deutsch-chinesischen Beziehungen von 1860–1880, Bochum 1981, S. 285–287, hier S. 286.
11 Abgedruckt in: Helmuth Stoecker, Deutschland und China im 19. Jahrhundert. Das Eindringen des deutschen Kapitalismus, [Ost-]Berlin 1958, S. 272–274.
12 „Rund um die Uhr“, so konstatiert Baumgart in einer Danksagung, habe er die ihm „digital am häuslichen Schreibtisch zur Verfügung“ gestandenen Akten des Politischen Archivs eingesehen (S. VIII).
13 Zu denken wäre hier an das Politische Archiv des Auswärtigen Amts Berlin, R 17613 und 17614; das Bundesarchiv Koblenz, R 1401, und das Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg im Breisgau, RM 1 Kaiserliche Admiralität.

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